Wodurch wird eine Fotografie gut ?

Antwort auf die Frage „Wodurch wird eine Fotografie gut?“ von Andreas Feininger aus dem Jahre 1969, die sich meiner Meinung nach auch auf andere Bereiche der Kunst übertragen läßt………

Beim Analysieren von Fotos, die ich instinktmäßig als »gut« empfand, fand ich, daß diese Bilder ausnahmslos, obwohl in verschiedenem Maße, vier besondere Eigenschaften hatten:

* Aufmerksamkeit zu erregen
* Absicht und Sinn zu offenbaren
* gefühlsmäßig zu wirken
* grafische Gestaltung zu besitzen.

Andererseits fehlten den Fotos, die mich kalt ließen, eine oder mehrere dieser Eigenschaften, und je größer diese Mängel in dieser Hinsicht waren, um so weniger gefiel mir das Bild. Daher glaube ich, ein Fotograf muß sich darum bemühen, diese Eigenschaften in seinem Bilde zu vereinigen, wenn er gute Fotos machen will.

Aufmerksamkeit erregen

Um überhaupt irgendeine Wirkung ausüben zu können, muß ein Foto zunächst einmal beachtet werden. Leider sind wir heute mit Fotos so übersättigt, daß ein Foto schon ziemlich ungewöhnliche Eigenschaften haben muß, um unsere Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Um das zu erreichen, muß das Bild eine gewisse Ausstrahlung besitzen.

Diese Ausstrahlung macht das Foto vom Visuellen her ungewöhnlich »hervorragend«, insofern, als es unter den anderen weniger ungewöhnlichen Bildem hervorragt. Sein Wesentliches ist dabei Überraschung oder schockierende Wirkung, aber wie viele Motive besitzen diese Eigenschaften? Die meisten Fotos stellen gewöhnliche Menschen oder Alltagserlebnisse dar, Motive, an die der Betrachter nur zu sehr gewöhnt ist. Ohne die zusätzliche Kraft, die Aufmerksamkeit erregt, bleiben Aufnahmen solcher Motive leicht unbeachtet, und ein unbeachtetes Foto hat seinen Sinn verfehlt.

Die Ausstrahlung, die Aufmerksamkeit erregt, kann auf drei verschiedene Arten dem Foto mitgegeben werden: indem man nur ungewöhnliche Motive aufnimmt; indem man ein gewöhnliches Motiv ungewöhnlich auffaßt und dadurch seine visuelle Wirkung steigert; indem man beide Möglichkeiten kombiniert. Mit anderen Worten: Der Fotograf muß nach dem Unerwarteten, Ungewöhnlichen, Neuen, Eindrucksvollen oder Kühnen suchen, nach irgend etwas, was Neugierde erregt und was wahrscheinlich andere Fotografen ausrufen läßt: Warum habe ich nicht an so etwas gedacht!

Natürlich soll das nicht bedeuten, ein Bild müßte vulgär oder laut sein, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Da in unserer modernen Gesellschaft Feinheit ziemlich selten ist, kann sie besonders wirksam sein. Die Verwendung von Pasteilfarben erregt zum Beispiel oft größere Aufmerksamkeit als grelle und schreiende Farben.

Hier ist nun eine Liste mit einigen Ratschlägen, die, zielbewußt verwendet, dem Bild die Ausstrahlung geben können, die das Interesse des Betrachters auf sich zieht:

* Farbaufnahmen, die viel Weiß (oder Schwarz) und sehr wenig Farbe enthalten;
* ungewöhnlich satte und kräftige Farben oder ungewöhnlich blasse und »farblose«; »ungewöhnliche« und »unnatürliche« Farben sinnvoll zu verwenden, ist wirkungsvoll und trägt dazu bei, Aufnahmeobjekt oder Stimmung zu charakterisieren;
* außergewöhnlich niedriger oder besonders hoher Kontrast;
* Benutzung von Objektiven extrem langer Brennweite oder von Weitwinkelobjektiven an Stelle des normalbrennweitigen Objektivs;
* Nahaufnahmen und Darstellungen im vergrößerten Maßstab;
* zylindrische oder kugelförmige Verzeichnungen (fish-eye-Objektiv!);
* Aufnahmen mit sehr geringer Schärfentiefe;
* ungewöhnliche Lichteinwirkungen, wie man sie vielleicht mit Reflexen, Schleiern, Lichthöfen usw. erreicht;
* Aufnahmen unter ungewöhnlichen atmosphärischen oder Beleuchtungstechniken Bedingungen;
* Verwenden der Struktur des Filmkorns,
* Bewegen der Kamera während der Aufnahme, Kombination mehrerer Belichtungen, Verzeichnung, Filterwirkung; betonte Vereinfachung oder halb-abstrakte Wiedergabe;
* ungewöhnliche und kühne Ausschnitte (bei Dias durch Masken).

Ehe aber ein Fotograf sich im Streben nach Ausstrahlung alle diese Möglichkeiten überlegt, möchte ich eine kleine Warnung einfügen: Wird eine bestimmte Wirkung nur als Selbstzweck verwendet und gehört sie nicht als Bestandteil zum Bild, verliert es den Zusammenhang mit dem Sinn des Motivs oder mit dem Charakter der Stimmung. Erregt es dann auch anfänglich Aufmerksamkeit, ist sie doch gleichzeitig die Ursache dafür, daß man das Bild als »billig« und »unecht« zurückweist, und damit wird natürlich die eigentliche Absicht vereitelt. Sinnlose Verzeichnungen, vulgäre Farben (Postkartenwirkung), kritiklose Verwendung von Filtern oder von farbigem Licht, Aufnahmen durch Trickeinrichtungen, wie Prismen, strukturiertes Glas oder Zerstreuungsgitter, sind Beispiele dafür.

Absicht und Sinn

Aber damit ein Foto »gut« ist, muß es mehr bieten, als nur das Interesse des Betrachters zu erzwingen. Was wir »grafischen Blickfang« nennen, könnte vielleicht am besten mit einem Blinklicht verglichen werden, einer Einrichtung, um die Aufmerksamkeit anzuziehen. Hat ein Bild das Auge des Betrachters auf sich gelenkt, muß es etwas haben, um das erregte Interesse wachzuhalten. Es muß etwas aussagen, etwas geben, den Betrachter nachdenklich machen und irgendwie für ihn zu einem Erlebnis werden. Es muß eben Absicht und Sinn haben. Zwar werden die Worte Absicht und Sinn oft miteinander verwechselt, aber sie bedeuten doch etwas Verschiedenes, und ich glaube, daß diese feine Unterscheidung eine Hilfe für den angehenden Fotografen sein kann. Wie ich es sehe, ist in der Fotografie »Absicht« das gleiche wie der Zweck des Bildes, das »Warum« der Aufnahme, dagegen ist »Sinn« gleichbedeutend mit dem Inhalt des Bildes – dem »Was« der Aufnahme.

Wenn es auch symbolisch aufgefaßte Fotos gibt, deren Sinn dunkel bleibt, obgleich das kaum die Absicht des Fotografen war, liegt der Sinn der meisten Fotos doch klar zutage. Selten muß ein Betrachter fragen: Was ist das? Was meint er damit? Aber Sinn allein genügt auch noch nicht für ein gutes Foto, es muß mit Absicht geschaffen worden sein. Die Absicht ist nicht nur die wichtigste der vier Grundeigenschaften, die jedes gute Foto aufweisen muß, sondern auch die vielfältigste. Die Absicht, die einer Fotografie zugrunde liegt, kann das Gewissen des Betrachters ansprechen (wie im Fall von Lewis W. Hines berühmten Aufnahmen von Ausbeutung und Kinderarbeit in New York um die Jahrhundertwende oder bei gewissen Arten von Gerichtsfotografie) – ein bewußter Versuch eines Fotografen mit sozialer Denkungsart, um seine Mitmenschen über unhaltbare Zustände aufzuklären und um damit eine Änderung zu erzwingen. So kann die Absicht bestehen, zu erziehen, zu unterhalten, mitzuteilen oder irgend etwas zu verkaufen. Es kann sich auch um Sex handeln. Oder es kann ganz einfach ein Versuch sein, Erlebnisse im Bilde festzuhalten, etwa in Gestalt glücklicher Augenblicke aus dem Familienleben, wie das bei Schnappschüssen der Fall ist. Lassen Sie mich dieses letzte Beispiel zum Ausgangspunkt für weitere Klarstellung des Unterschiedes zwischen Absicht und Sinn und deren Bedeutung nehmen, wie ich es sehe: Anfänger beginnen ihre fotografische Laufbahn meist mit Schnappschüssen ihrer Kinder, Frauen, Freundinnen, Wohnungen, Tiere usw. Wenn auch solche Bilder in der Regel weder »künstlerischen Wert« aufweisen, noch für Außenstehende interessant sind: vom Hersteller aus gesehen besitzen sie beides, Absicht und Sinn, weil sie der bleibenden Erinnerung an Familie und Freunde, fröhliche Stunden und wichtige Ereignisse dienen.

Aber früher oder später kommt der ehemalige Anfänger in seiner Entwicklung als Fotograf an einem Wendepunkt an, von dem an er sich selbst als Amateur bezeichnen kann, also als einen Menschen, in dessen Leben die Fotografie eine bezeichnende Rolle spielt, ein nicht-berufsmäßiger Fotograf, der die Technik seines Handwerks so weit gemeistert hat, daß er fähig ist, foto-technisch einwandfreie Bilder zu liefern. Leider ist das auch oft der Augenblick, in dem sich seine Auffassung von Absicht und Sinn der Fotografie grundsätzlich ändert. Er ist nicht länger damit zufrieden, Bilder von seiner Familie zu machen oder Bildberichte von seinen Ferien; nun fühlt er sich berufen, Fotos einer höheren Ordnung herzustellen, Bilder, die »Klasse« haben. Stolz auf seine technische Vervollkommnung und im Einklang mit seinem neuen Standpunkt, muß er »schöpferisch« werden – und wenn auch nicht nach dem Wahlspruch »l’art pour l’art«, so doch nach dem Motto »Fotos um der Fotografie willen« arbeiten. Und so geht er hin und beginnt solche langweiligen Bilder zu machen, wie man sie Jahr für Jahr in den Fotojahrbüchern und auf den Ausstellungen der Fotovereine sieht: Rollen von Tauen, die auf einem Kai liegen; eingeölte Akte in gekünstelten Verdrehungen, weil das Gesicht oder ein anderer Teil des Körpers, der nicht im Bild gezeigt werden darf, verborgen werden soll; alte Männer mit Bart; alte Frauen, Kruzifixe in knorrigen Händen halten; Stilleben mit einem offenen Buch oder einer Bibel, vorzugsweise mit einer daneben stehenden brennenden Kerze; in grobe Leinwand gekleidete Mönche; sommersprossige Jungen, die Apfel essen; und Stilleben mit Aluminiumschalen und Vasen – alles Bilder ohne jedes Interesse, sinnlos hergestellte fotografische Massenware.

In Wahrheit handelt es sich hier um so etwas wie falsch geleitete Absichten:

um den Wunsch, »Kunstwerke« zu schaffen – eine Taurolle kann eine attraktive Darstellung ergeben. Aber wen geht das etwas an? Wird ein Fotograf von Anmaßung getrieben, entbehren aber seine Arbeiten jedes Interesses, sind seine Leistungen wertlos.

Ich habe manchmal Fotografen gefragt, warum sie diese kümmerlichen Bilder herstellen. Was sie antworteten war etwa: Warum nicht? Andere machen solche Aufnahmen und fahren gut dabei! Sie werden in fotografischen Zeitschriften und Büchern veröffentlicht und hängen in den fotografischen Galerien. »Warum sollte ich nicht?«

Das scheint mir doch eine hoffnungslos unzulängliche Einstellung zur Fotografie zu sein, eine Haltung, die in ihrer Enge den Mangel individuellen Denkens, wie es heute existiert, reflektiert. Heutzutage beziehen die meisten Menschen ihre Meinung fertig von den Zeitungsartikeln und von den Radio- und Femseh-Kommentatoren, die das Neuste bieten und vorkauen. Sie zeigen es einseitig gesehen, um bestimmte Interessen zu fördern, und servieren es autoritativ dem Leser oder Hörer, der seinerseits, überzeugt von seiner eigenen Unzulänglichkeit, nicht wagt, eine eigene Meinung zu haben, es also als wahr hinnimmt und schließlich die Meinung eines anderen in der Überzeugung weitergibt, es wäre seine eigene.

Es ist mir unverständlich, daß immer noch so viele Amateure ihre Energie und Zeit an dieselben abgedroschenen Motive verschwenden, die von Millionen anderer Amateure fotografiert worden sind. Ich muß dabei immer wieder auf meine These zurückkommen, daß persönliches Engagement die wichtigste Voraussetzung für gute Bilder ist. Hand aufs Herz – sind Sie wirklich an den Motiven interessiert, die auf den obenerwähnten fotografischen Abklatsch hinauslaufen? Finden Sie wirklich gedrehte Aluminiumplatten oder Taurollen unwiderstehlich? Oder ziehen Sie gestelltes Leben dem echten Leben vor? Amateure, die Fotografie lieben, aber sich noch nicht dafür entscheiden konnten, was sie fotografieren sollten, sei geraten, sich erst einmal darüber klar zu werden, wo eigentlich ihre Interessen liegen. Fragen Sie sich selbst: Was 8. möchte ich am liebsten tun? Reisen? Jagen? Fischen? Skifahren? Segeln?

Oder interessieren Sie sich vielleicht für alte oder neue Autos? Gärten und Blumen? Briefmarken sammeln? Tiere in freier Wildbahn? Oder vielleicht für Menschen, ihre Tätigkeiten, die Art, wie sie leben, arbeiten, beten, sich vergnügen? Ich meine dabei natürlich echtes Interesse mit Verstehen und Sympathie und nicht, »weil Menschen so gute Fotomotive sind« und »Charakterstudien« immer von Fotoausstellungen angenommen werden. Und wenn Sie wirklich an Menschen interessiert sind, dann gehen Sie hinaus und fotografieren Sie die Menschen, nicht aber, um in einer sadistischen Art das Komische in ihnen abzubilden, sondern mit der Absicht, zu zeigen, wie Menschen wirklich leben. Und je mehr Sie in ihre Aufnahmen an ihren Gefühlen, Ihren Gesichtspunkten, Ihrem Selbst investieren, je bewußter Sie an Ihr Motiv herangehen und je ausdrucksvoller Sie Ihre Bilder gestalten, um so besser werden Ihre Fotos sein.

Gefühlsmäßige Wirkungen

In ähnlicher Weise, wie Absicht und Sinn eines Fotos auf die intellektuellen Fähigkeiten des Betrachters zielen, wendet sich das Gefühlsmäßige des Fotos direkt an sein Herz. Emotionale Wirkung ist eine Eigenschaft, die schwierig zu definieren ist, obwohl ihre Gegenwart oder Abwesenheit in einem bestimmten Bild leicht festzustellen ist: Wenn Ihr Bild den Betrachter nachdenklich stimmt, wenn es ihm etwas über die unmittelbare Wirkung des Motivs hinaus sagt, wenn es ihn dazu bewegt, daß er sich gut oder stolz vorkommt, ärgerlich oder traurig, wenn es seine Gefühle anregt, ihn zum Lachen oder zum Weinen bringt, dann können Sie sicher sein, Ihr Bild wirkt auf das Gefühl. Wenn ferner die Reaktion des Betrachters etwa der entspricht, die Sie hervorrufen wollten, können Sie auch überzeugt sein, daß Ihr Foto wertvoll ist, selbst wenn es in mancher Hinsicht Mängel aufweisen sollte, etwa in der Komposition, in der technischen Durchführung oder in der Art der Wiedergabe.

Um Bilder zu schaffen, die sich an das Gefühl des Betrachters wenden, ist es natürlich notwendig, daß der Fotograf selbst diese Bewegung spürt, die er in anderen erwecken möchte.

Aus diesem Grunde sehe ich echtes Interesse am Aufnahmeobjekt als erste Vorbedingung für gute Fotos an. Wenn ein Fotograf unfähig ist, gefühlsmäßig auf sein Motiv zu reagieren, kann er natürlich keine Bilder schaffen, die gefühlsmäßig wirken, genauso wie Fotos, denen solche Eigenschaften fehlen, keine Gefühle bei denen erregen können, die sie anschauen.

Die gefühlsmäßige Reaktion eines Fotografen auf sein Motiv kann z.B. Mitleid für Kinder sein, die nirgends anders spielen können als auf den müllüberladenen Hinterhöfen einer Großstadt; es kann sich um die Ehrfurcht gebietende mystische Stille in den großen Wäldern Kaliforniens handeln oder auch um das Staunen über die wunderbare Konstruktion einer Schnecke. Die Reaktion kann von der Bewunderung für das Talent eines Künstlers stammen, vom Sex-Appeal eines Mädchens, vom Redetalent eines Politikers oder vom Haß auf den Krieg. Was den Unterschied zwischen Bildern mit und ohne gefühlsmäßige Wirkung ausmacht ist, ob der Fotograf auf sein Motiv emotional reagierte oder ob er ungerührt blieb und das Bild nur zum Zeitvertreib aufnahm. Im ersten Falle wird es ihm wahrscheinlich gelingen, etwas von dem, was er selbst vor dem Motiv gefühlt hat, zu übertragen. Im zweiten Falle macht er eben nur ein Bild, das genau so gut hätte unfotografiert bleiben können.

Wie es unmöglich ist, Regeln für das Schaffen eines Kunstwerkes aufzustellen, so ist es auch nicht möglich, ein Rezept zu geben, das dafür garantiert, daß die hergestellten Fotos auf das Gefühl wirken. Ich persönlich glaube, daß die Arbeiten von Fotografen wie W. Eugene Smith, Leonard McCombe, Gordon Parks oder Ed van der Elsken das Gefühl nicht deshalb ansprechen, weil sich diese Fotografen an bestimmte Regeln halten, sondern weil sie zu der seltenen Art von Fotografen gehören, die auf gleiche Weise in den beiden Teilen ihres Handwerks daheim sind: im Schöpferischen wie auch im Technischen. Als sensitive Künstler fotografieren sie nur Motive, die sie emotional bewegen, und ihre Reaktionen darauf sind streng und wahr. Da sie Meister im Ausspielen ihrer Mittel sind, können sie auch unfaßbare Gefühle in verständliche Ausdrucksformen ihres Handwerks übertragen: in Licht und Schatten, Farbe, Kontraste, Formen… Um noch mehr hilfreiche Schlüsse ziehen zu können, habe ich eine Anzahl Fotos analysiert, und zwar solche, die, was mich betriffl, emotional wirken. Und ich fand dabei, daß alle diese Fotos einen gemeinsamen Faktor besaßen: Sie waren ehrliche Berichte. Damit meine ich, daß an ihnen nichts unecht, nichts hinzugefügt, nichts vorgetäuscht und nichts posiert war. Für mich ist daher Ehrlichkeit die erste Voraussetzung, um Fotos zu schaffen, die gefühlsmäßig ansprechen.

Und im Laufe dieser Analyse stieß ich auf eine bemerkenswerte Tatsache:

Viele dieser Fotos waren technisch unvollkommen, grau, unscharf, verschleiert. Aber weit entfernt davon, daß diese Eigenschaften vom Foto ablenkten, erhöhten sie den Eindruck von Echtheit und Wirklichkeit im Bild und wurden so geradezu zum Mittel des schöpferischen Ausdrucks. Besonders in Fotos, die Gewalttätigkeit, Elend, Krieg, Demonstration, Aufruhr, Slumverhältnisse und unterdrücktes Menschentum betreffen, ergab sich daraus ein Gefühl der Unmittelbarkeit, das in anderen ähnlichen, aber technisch besseren Bildern fehlte. Diese technischen Unzulänglichkeiten gaben ihnen den Stempel echter Wirklichkeit, ein Gefühl von Erregung, das den Ausbruch dieses Ereignisses und die Schwierigkeit oder Gefahr der Lage noch unterstreicht. In gewissem Sinn erinnerten mich diese technisch etwas mangelhaften Fotos an handgefertigte Dinge mit ihren interessanten und individuellen Unregelmäßigkeiten – Gegenstände, die gerade wegen dieser »Fehler« ausdrucksvoll wirken und deshalb oft bevorzugt und mehr geschätzt werden als ihre mit der Maschine hergestellten, technisch vollkommenen Gegenstücke. Die Tatsache, daß eine (im konventionellen Sinn) technisch fehlerhafte Fotografie gefühlsmäßig wirksamer sein kann als ein technisch fehlerloses Bild, wird wahrscheinlich auf jene schockierend wirken, die naiv genug sind, zu glauben, daß technische Perfektion den wahren Wert eines Fotos ausmache.

Grafische Gestaltung

Um sich mitzuteilen, muß der Fotograf seine Absichten mit grafischen Mitteln ausdrücken – mit Linien, Tonwerten, Formen, Farben usw.-, den Werkzeugen der visuellen Darstellung, die notwendig sind, um Ideen, Begriffe und Bilder durch das Medium der Fotografie auszudrücken, den Mitteln, die im Zusammenspiel dem Foto seine grafische Wirkung verleihen.

Nun, auch die billigste Kamera, die von einem Kind auf ein Motiv gerichtet wird, ergibt so etwas wie ein Bild, das aus grafischen Elementen besteht, das also eine gewisse grafische Wirkung ausübt. In Hinblick auf Schönheit und Kraft steht es aber normalerweise auf einer weit niedrigeren Stufe grafischer Eigenschaften als das Werk eines gestalterisch und technisch vollendeten Fotografen. Zu einem beträchtlichen Teil sind es gerade diese Unterschiede der grafischen Wirkung, die gute Fotos von schlechten trennen. Meisterschaft der Fototechnik – der Mittel, die notwendig sind, um Gedanken und Eindrücke in Linien, Tonwerte, Farben und andere Formen grafischen Ausdrucks zu übersetzen – ist deshalb unbedingt Voraussetzung, um gute Fotos zu machen.

Das ist auch die Erklärung dafür, weshalb ein Fotograf, der nicht weiß, wie man Gefühle und Gedanken in eine grafisch zufriedenstellende Form übersetzen kann, nur wirkungslose Fotos machen wird, gleichgültig, wie idealistisch, leidenschaftlich, feinfühlig oder phantasievoll er auch sein mag. Damit eine Fotografie als gut anerkannt wird, muß sie nämlich nicht nur irgend etwas mitteilen, sondern sie muß es auch eindringlich sagen. Ein Bild kann sinnvoll sein, vom Motiv her interessant wirken oder gefühlsmäßig aufregen; falls es aber sein Motiv nicht auch in einer ästhetisch befriedigenden Form präsentiert, falls es nicht einen hohen Grad grafischer Qualität erreicht, kann es nicht seine volle Wirkung als Mittel des Ausdrucks und der Mitteilung entfalten. Das ist eben eine Tatsache, eine Forderung menschlicher Natur, die der weiterstrebende Fotograf nicht früh genug erkennen kann. Wenn verschiedene Dinge der gleichen Absicht und Funktion gleich gut dienen mögen das nun Autos, Wohnungen, Armbanduhren oder Farbfotos sein, wird das Publikum unzweifelhaft stets das wählen, das seinem Schönheitssinn am stärksten entspricht.

Unter einer Anzahl von Fotos, die alle dasselbe Motiv schildern, wird normalerweise das Bild, das die stärkste ästhetische Wirkung ausübt, dessen Ausdrucksformen am stärksten befriedigen, das in bezug auf grafische Qualitäten an der Spitze steht, am höchsten geschätzt und oftmals sogar vor Fotos den Vorrang haben, die sinnvoller sind, aber grafisch weniger wirksam.

Grafische Qualität entsteht aus dem Zusammenwirken der verschiedenen Bildkomponenten, wie Schärfe, Unschärfe, Verwischung, Kontrast, Farbe, Tonwerte, Perspektive, Körnigkeit usw., kurz gesagt, aller visuellen Darstellungsmöglichkeiten der ausgereiften fototechnischen Arbeit. Da viele dieser Möglichkeiten in größerem oder kleinerem Maße abgewandelt und kontrolliert werden können, kann ein ausgefuchster Fotograf die grafische Wirkung seiner Bilder in vielfältiger Weise beeinflussen.

Um die Überlegungen besser zu verstehen, die solchen fototechnischen Entscheidungen voranzugehen haben, ist es ratsam, zwischen zwei verschiedenen Niveaus der Fototechnik zu unterscheiden: einem niedrigen Niveau, das die Fragen umfaßt, die man als technische Grundlagen bezeichnet, und einem höheren Niveau, das die später behandelten, selektiven Techniken umfaßt. Lassen Sie mich dieses an treffenden Beispielen erklären.

Um scharfe Bilder zu erhalten, muß der Fotograf sein Objektiv genau einstellen und die Kamera während der Belichtung völlig ruhig halten. Da die dieses nun für alle Fälle gilt, bei denen Schärfe der Darstellung verlangt wird, gleichgültig, welche Art von Motiv fotografiert wird oder welcher Kameratyp, welches Objektiv, Film, Filter usw. verwendet wird, gehören Einstellen und die Methoden, Bewegung der Kamera zu verhindern, zu den technischen Grundlagen. Mit anderen Worten: Wenn ein Fotograf wünscht, daß sein Bild scharf ist, gleichgültig, unter welchen Umständen er fotografiert, muß er sein Objektiv genau einstellen und muß er seine Kamera während des Augenblicks der Belichtung absolut ruhig halten. Er hat keine andere Wahl.

Dagegen hat der Fotograf, soweit es sich um gewisse andere grafische Eigenschaften handelt, die Wahl. So kann er zum Beispiel die Abbildungsgröße seines Motives dadurch beeinflussen, daß er es aus größerem oder kleinerem Abstand aufnimmt oder auch mit einem Objektiv von kürzerer oder längerer Brennweite. Er kann die Perspektive seines Bildes dadurch ändern, daß er zu einem Objektiv mit anderem Bildwinkel greift, er kann die Farbwiedergabe mit Hilfe besonderer Filter beeinflussen oder die Bewegung des Objektes dadurch charakterisieren, daß er eine Belichtungszeit wählt, die im Foto gerade den richtigen Grad von Bewegungsunschärfe entstehen läßt; und so weiter. Bei jedem dieser Beispiele kann er die gewünschte Wirkung mit Hilfe einer selektiven Technik erzielen, die ihm zur Wahl mehrere Möglichkeiten anbietet, von denen jede zu einer anderen Wirkung führt.

Diese Freiheit der Wahl ist bedeutend größer, als die meisten Fotografen annehmen. »Automatische Kameras« zum Beispiel – Kameras, die mit eingebautem Belichtungsmesser ausgerüstet sind, der nach den vorhandenen Lichtverhältnissen automatisch die richtige Belichtung einstellt, liefern also automatisch richtig belichtete Negative oder Farbdias. Trotzdem: Eine korrekte Belichtung kann immer auf verschiedene Weise erreicht werden. Grundsätzlich (Ausnahme: ungewöhnlich lange Belichtungszeiten, vgl. Schwarzschildeffekt) gibt eine kleine Blendenöffnung kombiniert mit einer langen Belichtungszeit – soweit es die Belichtung betrifft, d. h. die Dichte des Negatives oder die Farbwiedergabe des Dias – dasselbe Resultat wie eine große Blendenöffnung in Verbindung mit einer relativ kurzen Belichtungszeit. Wenn aber auch, soweit es die Farbwiedergabe anbetrifft, jede dieser Kombinationen von Blendenöffnung und Belichtungszeit ein einwandfrei belichtetes Farbdia (oder Negativ) ergibt, sehen doch diese beiden Aufnahmen in bezug auf andere grafische Eigenschaften sehr verschieden aus. Im ersten Fall ist die Schärfentiefe ziemlich ausgedehnt, aber ein Objekt, das sich in Bewegung befindet, wird wahrscheinlich unscharf wiedergegeben. Im zweiten Fall ist die Schärfe in der Tiefe relativ begrenzt, aber ein bewegtes Objekt wird wahrscheinlich völlig scharf abgebildet. Auf diese Weise hat der Fotograf vielfach auch in dem anscheinend hoffnungslosen Fall der automatischen Kamera noch die Wahl. Und wenn er die richtige Entscheidung trifft, wird der erreichte grafische Effekt die Wirkung seiner Aufnahme steigern Ist seine Entscheidung aber falsch, bleibt die Wirkung aus. Die Prinzipien und Elemente der grundlegenden und der selektiven Fototechnik sollen später besprochen werden. An dieser Stelle ist nur wichtig, daß der angehende Fotograf das ziemlich verwickelte Zusammenwirken gewisser Faktoren erkennt, die an der Herstellung guter Fotos mitwirken: fototechnisches Können, grafische Auffassung und Fähigkeit, die richtige Entscheidung von seiten des Fotografen zu treffen, der, um gute Aufnahmen zu machen, die Eigenschaften eines Künstlers und eines Handwerkers in sich vereinigen muß.

Zusammenfassung

In vieler Hinsicht ist die Fotografie laufend einfacher und leichter geworden. Die meisten Kameras sind heutzutage sehr hoch entwickelt, viele sind automatisiert und mit elektronischer Regelung versehen; die Filme werden immer höher empfindlich, und die Dienste guter Verarbeitungsanstalten stehen jedem – nötigenfalls über den Postversand – zur Verfügung, der Farbaufnahmen machen will, aber sich selbst nicht mit Dunkelkammerarbeit abgeben möchte. Immer mehr ersetzen Belichtungsmesser und Leitzahlen, die von den Herstellern von Filmen und Beleuchtungsgeräten angegeben werden, die Geschicklichkeit und Erfahrung, die früher unumgänglich nötig war, um gute Aufnahmen zu machen. Und mit Polaroidkameras kann man heutzutage fertige Farbaufnahmen innerhalb einer Minute ab Belichtung machen. Als Resultat dieser und anderer Fortschritte auf dem Gebiet der Fototechnik kann nun jeder ohne Lernen und ohne Erfahrung nur anhand der Gebrauchsanweisungen, die der Kamera oder dem Film beiliegen, technisch befriedigende Farbaufnahmen machen.

Aber in anderer Hinsicht ist die Fotografie ständig schwieriger und anspruchsvoller geworden. Genau besehen, ist dank der fototechnischen Fortschritte die technische Qualität der Arbeiten von durchschnittlichen Fotografen oft ausgezeichnet, die Konkurrenz zwischen den Fotografen ist sehr hart, die Möglichkeiten, interessante Bilder herzustellen, sind fast unbegrenzt, und die Erwartungen des Publikums sind dementsprechend hoch. Die Regeln, nach denen die Bilder eines Fotografen beurteilt werden, sind strenger als je zuvor. Überdies wird der Wert einer Fotografie nicht mehr nur nach ihrer technischen Ausführung beurteilt, sondern vor allem auch nach ihrem Inhalt und den Anregungen, die sie ausstrahlt. Also muß der angehende Fotograf dem Zweck, dem Sinn und der gefühlsmäßigen Wirkung seines Bildes den Vorrang geben und darf dabei nicht vergessen, daß die Kamera nur ein Werkzeug ist, für den Fotografen also dasselbe bedeutet wie die Schreibmaschine oder der Kugelschreiber für den Schriftsteller: Ein Mittel, um ein Ziel zu erreichen. Und genau wie die literarische Leistung eines Schriftstellers nicht deshalb an Wert nicht zunimmt, weil sie mit einer modernen elektrischen Schreibmaschine anstatt mit der Hand und einem »altmodischen« Füllfederhalter geschrieben ist, so gewinnen die Bilder eines Fotografen auch nicht automatisch an Wert, weil sie mit der neuesten Ausrüstung gemacht worden sind. Denn obgleich es eine Tatsache ist, daß jedes Ausdrucksmittel – ob Malerei, Dichtung, Bildhauerei, Musik oder Fotografie – mechanischer Hilfsmittel bedarf, um in verständlicher Form abstrakte Begriffe auszudrücken – Gedanken, Ideen, Töne oder Bilder -, ist es letzten Endes doch immer noch der schöpferische Geist, der die Ideen ersinnt, das Motiv wählt, die Einstellung bestimmt, über die endgültige Form der Darstellung entscheidet und Hand und Werkzeug führt, gleichgültig, um welches Medium es sich dabei handelt.

Die Herstellung einer Fotografie stellt ein Problem dar, das in zweierlei Hinsicht gelöst werden muß: mit den Mitteln der Darstellung (gedanklich) und mit den Mitteln der Kamera (mechanisch). Für die Praxis ist es nun nützlich, wenn man die Herstellung einer Fotografie in fünf aufeinanderfolgende Stufen unterteilt:

Erste Stufe: Die Konzeption des künftigen Bildes. Angeregt durch das Interesse an einem bestimmten Motiv oder Thema, nehmen Gedanken, Überlegungen und Bilder im Geiste des Fotografen Form an. Das ist der wirklich schöpferische Augenblick, der über Zweck, Sinn und Wert des künftigen Fotos entscheidet.

Zweite Stufe: Rohes Formen des künftigen Bildes. Hat sich der Fotograf für ein bestimmtes Motiv entschieden, muß er es genauer studieren. Er muß versuchen, darüber mehr zu erfahren, sein Wesen so zu verstehen, daß er charakteristische Eigenschaften betonen und andererseits unwichtige oder ablenkende Einzelheiten unterdrücken oder ausschalten kann. Ohne solche kriisch-analytischen Betrachtungen können keine sinnvollen Fotos entstehen.

Dritte Stufe: Bewertung des Motivs. Wissen und Verständnis für das Motiv bereiten die Grundlage für eine persönliche Auffassung und einen Gesichtspunkt vor. Das wiederum führt zu Überlegungen über die Wiedergabe des Motivs durch Kamerastandpunkt und Blickwinkel, Art der Beleuchtung, Ausschnitt, Komposition usw. Wenn sich eine gültige persönliche Auffassung mit individueller Sehart und schöpferischen Fähigkeiten vereinigt, muß die Arbeit zu einer Aufnahme führen, die das Motiv charakteristisch und anregend erfaßt.

Vierte Stufe: Wirklichkeit fotografisch aus gedrückt. Viele der hervorstechenden Eigenschaften des Motivs – Leben, Bewegung, Tiefe, Geräusch, fühlbare Sinneseindrücke, Geruch und in Schwarzweißfotografie die Farbe, um nur einige der wichtigsten zu nennen – können in ein Foto nicht direkt übernommen, sondern müssen durch Symbole ausgedrückt werden. Wie das geschehen kann, wird später gezeigt. Wenn solche »unfotografierbaren« Eigenschaften des Aufnahmeobjektes nicht mit Verständnis und Geschicklichkeit angedeutet werden, muß das Bild mißlingen. So hat mancher Fotograf zu seiner Enttäuschung festgestellt, daß das Bild eines schönen Mädchens nicht zwangsläufig zu einem schönen Bild wird.

Die fünfte Stufe: Technische Durchführung. Hat ein Fotograf sich dafür entschieden, was er sagen will und wie er es sagen soll, bleibt ihm schließlich nur noch übrig, die Mittel zum Erreichen seines Zieles einzusetzen – Kamera, Objektiv, Film, Filter, Licht usw. –, und sie so zu handhaben, wie es den praktischen Erfordernissen der Fototechnik entspricht. Dank der Fortschritte in der modernen Fototechnologie und dem hohen Grad der Standardisierung ihrer Methoden können heute Einstellen, Belichten, Entwickeln und die Positivherstellung auf eine Arbeitsweise gebracht werden, bei der zum großen Teil Tabellen und Meßgeräte die Notwendigkeit, persönliche Erfahrungen in harter Arbeit zu sammeln, ersetzen. Im Zeitalter der narrensicheren automatischen Kameras, der fotoelektrisch geregelten Belichtung und der bei Zeit und Temperatur kontrollierten Entwicklung kann jeder, der lesen und einfachen Gebrauchsanweisungen folgen kann und einen Belichtungsmesser, ein Thermometer und eine Uhr besitzt, technisch vollendete Farbdias und Bilder herstellen.

Schlußfolgerung

Jede der fünf eben beschriebenen Stufen hat gleiche Wichtigkeit. Leider wissen wenige Fotografen um die Bedeutung der ersten Stufen, viele wissen nicht einmal, daß sie existieren. Auf den ersten Blick scheint der schöpferische Moment mit dem Augenblick der Belichtung zusammenzufallen. Der wirkliche Schöpfungsprozeß spielt sich aber während der vier ersten Stufen ab. Nur während dieser vorbereiteten Stufen hat der Fotograf die Möglichkeit, sein Bild in Übereinstimmung mit seiner Absicht zu gestalten. Nur vor dem unwiderruflichen Schritt der Belichtung hat er noch die Wahl, zu betonen oder zu unterdrücken, die Gelegenheit, seine Darstellung in Übereinstimmung mit seinen Forderungen für den vorliegenden Fall zu verdichten, zu stilisieren und zu dramatisieren. Nur während dieser Stufen steht es ihm frei, den Weg und die Mittel, die Werkzeuge und Techniken zu wählen, die der Verwirklichung seiner Gedanken am besten entgegenkommen. Ist erst einmal belichtet worden, sind die Würfel für gut oder für schlecht gefallen. Und was danach noch übrigbleibt, kann von jedem geschickten Laboranten erledigt werden. Leider widmet jedoch der Durchschnittsfotograf unter Vernachlässigung aller vorhergehenden Stufen der fünften Stufe – der technischen Ausführung des Bildes – alle seine Kräfte. Dies ist natürlich die Erklärung dafür, daß die meisten Fotos so sinnlos und langweilig sind. Wie ich schon am Anfang sagte, entscheidet die Einstellung des Fotografen zu seinem Medium, die sich auch in seiner Stellung zum Motiv reflektiert, darüber, ob er versagen wird oder erfolgreich ist. Denn das Wissen, wie etwas gemacht wird, ist wertlos, solange es nicht von dem, was man machen will, geleitet wird.
Ob Sie, der Sie diese Seiten lesen, versagen oder Erfolg haben, liegt völlig bei Ihnen – darin, was Sie tun möchten, wie weit Sie gehen wollen, was Sie von Ihren Bildern erwarten, wieviel Zeit, Geld und Energie, wieviel von Ihrem
Selbst Sie in Ihre Farbaufnahmen investieren wollen.

Sie entscheiden selbst darüber, welche Art von Bildern Sie bekommen.

Was macht eigentlich den Unterschied zwischen Ihren Farbbildern und denen von berühmten Fotografen aus?

Die Ausrüstung? Nein, denn erfolgreiche Fotografen benutzen genau dieselben Typen von Kameras und Objektiven, wie sie Amateure verwenden:

Leica, Nikon und Pentax für Kleinbildaufnahmen, Linhof und übliche Mattscheibenkameras für größere Formate; Hasselblad, Mamiyaflex, Rolleiflex für 6 X 6cm.

Der Farbfilm? Sicher nicht – denn wir kaufen ja dieselben Fabrikate und Typen von Filmen.

Die Verarbeitung? Nein – wenn Sie Ihre Farbfilme bei einem erstklassigen Farblabor entwickeln lassen, was übrigens eine so gute Idee ist, daß heute die meisten Spitzenfotografen sie befolgen.

Die Wahl des Motivs? Offensichtlich nicht – zumal viele der schönsten und anregenden Farbfotos, die Fachfotografen aufgenommen haben, Motive zeigen, die jedem zugänglich sind Menschen, Landschaften, Szenen des täglichen Lebens usw.

Wo liegt denn dann der Unterschied?

Es handelt sich hier um den Unterschied zwischen Ihnen und diesen berühmten Fotografen, zwischen Ihrer Persönlichkeit und der dieser Fotografen, Ihrer Geschicklichkeit und Schöpferkraft und der, der anderen, der allein für den Unterschied zwischen Ihren Bildern und deren Bildern verantwortlich ist. Um ein Gleichnis aus der Musik zu erwähnen: Anfänger benutzen nur einen Finger, um ein Lied zu spielen, Virtuosen (oder geübte Amateure) nehmen alle zehn dazu. Das Lied und das Klavier können dieselben sein – wie Motiv und Kamera dieselben sein können -, aber die Wirkungen sind sehr verschieden.

»Das ist es ja gerade«, mögen Sie sagen. »Das sind Fachleute. Wie kann ich denn mit ihnen konkurrieren?«

Meine Antwort: Bedenken Sie, daß jene nicht als Fachleute geboren wurden. Auch sie haben einmal als »Amateure« oder grüne Anfänger begonnen, und beim Vergleich ihrer eigenen Versuche mit den vollendeten Werken der »Meister« waren auch sie oft nahe daran, aufzugeben. Aber statt dessen hielten sie durch! Sie machten Fehler, aber sie lernten daraus, wie man es nicht machen soll. Sie blieben beharrlich. Sie verbesserten ihre technischen Fähigkeiten, ihr Farbempfinden, ihr Gefühl für Farbharrnonie, ihren Geschmack und ihre Geschicklichkeit. Nach und nach wurden sie die Spitzenfotografen von heute. Und SIE können dasselbe erreichen!

aus: Andreas Feininger Farb-Fotolehre
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